Stefan Talgner wird 60

Er hätte vor fünf Olympiaden (plus einem Jahr) noch vor Henning Mühlleitner, der kürzlich in Tokio überraschend Vierter über 400 Meter Freistil wurde, der erste Gmünder Schwimmer bei Olympischen Spielen sein können. Doch weil die Bundesrepublik Deutschland sich wie weitere NATO-Länder dem Aufruf des US-Präsidenten Jimmy Carter anschloss, die Olympischen Spiele 1980 in Moskau aus Protest gegen den Einmarsch der damaligen Sowjetunion in Afghanistan zu boykottieren, blieb es Stefan Talgner wie auch seiner Gmünder Vereinskameradin Dagmar Rehak-Freese versagt, bei olympischen Wettkämpfen an den Start zu gehen. An diesem Mittwoch wird der viele Jahre lang überragende Gmünder Rückenschwimmer und heutige Sportvorstand des Schwimmvereins Gmünd 60 Jahre alt. Mit seiner Frau Babette, den beiden Töchtern Lena (21) und Flora (18), feiert er den Ehrentag im Familienkreis so, wie es seine grundsätzlichen Charaktereigenschaft entspricht – ruhig, zufrieden, bescheiden.

 

Der Olympia-Boykott 1980 war für Stefan Talgner zwar eine sportliche Enttäuschung, aber „zerbrochen“ sind daran weder seine sportliche noch seine berufliche Laufbahn. Dass das von Trainer Peter Stich geformte Gmünder Schwimmtalent nämlich überhaupt sich für Moskau qualifiziert hätte, lag daran, dass sein stärker eingeschätzter Konkurrent Thomas Lebherz bei den Deutschen Meisterschaften in München fehlten und Stefan Talgner so in der württembergischen Rekordzeit von 2.09.98 Minuten den Titel über 200 Meter Rücken gewann. Als „Ersatz“ für Moskau, wo der heutige Gmünder Stadtsportlehrer Lutz Dombrowski mit 8,54 Metern Olympiasieger im Weitsprung wurde, durften die verhinderten (west)deutschen Olympioniken an einer Wettkampfreise des Deutschen Schwimmverbandes nach Kanada teilnehmen. Dort steigerte sich Stefan Talgner auf 2.09,28 Minuten – diese Zeit blieb über 25 Jahre lang SVG-Vereinsrekord.1981 gehörte Stefan Talgner der DSV-Nationalmannschaft bei den Europameisterschaften in Split an und belegte an der jugoslawischen Adriaküste über 100 Meter und 200 Meter Mittelfeldplätze.

 

Erstmals in den Blickpunkt schwamm sich Stefan Talgner bei den baden-württembergischen Meisterschaften 1978, als er über 200 Meter Rücken seinen inzwischen verstorbenen Vereinskollegen Gerhard Büttner als Abonnementsieger ablöste. Es folgten eine Vielzahl von württembergischen und baden-württembergischen Rekorden und Titeln im Einzel und in den Staffeln. 1979 wurde der Jubilar über 100 Meter und 200 Meter Rücken in Grafenau Deutscher Jugendmeister und 1981 deutscher Vizemeister der Herren über 100 Meter und 200 Meter Rücken. Obwohl er 1982 mit 59,95 Sekunden über 100 Meter Rücken die Schallmauer von einer Minute unterbot, verpasste er als Dritter der Deutschen Meisterschaften denkbar knapp die Qualifikation für die Weltmeisterschaften in Guayaquil in Ecuador. Daraufhin wechselte er 1982 zum damaligen deutschen Topverein SSF Bonn, mit dem er zweimal deutscher Mannschaftsmeister und Bronzemedaillengewinner über 100 Meter Rücken bei den Deutschen Meisterschaften wurde. Bevor Stefan Talgner 1983 zum Schwimmverein Gmünd zurückkehrte, trainierte er einige Wochen in Kalifornien/USA.

 

Studium und Berufsausbildung standen danach im Fokus. Bis heute ist Stefan Talgner in der IT einer großen internationalen Wirtschaftsprüfungsgesellschaft tätig und verantwortet dort verschiedene globale Führungsrollen. Seine Sporttalent gab er seinen Töchtern Lena und Flora weiter, die heute zu Leistungsträgern im SVG-Team gehören. Seit 2015 bringt Stefan Talgner seine schwimmsportliche und berufliche Expertise als Sportvorstand beim Schwimmverein ehrenamtlich ein. Einstige Hobbies wie Gleitschirmfliegen oder Guggenmusik „blieben durch Beruf, die Familie und den SVG auf der Strecke“, stellt Stefan Talgner an seinem 60. Geburtstag fest – aber nicht mit bedauerndem Unterton, sondern mit dem Selbstverständnis eines gestandenen Schwaben, dem seine Freunde beim Schwimmverein Gmünd um den Vorsitzenden Roland Wendel zum 60. Geburtstag alles Gute wünschen – verbunden mit einer Bitte: „Mach doch endlich mit bei den Masters-Wettkämpfen. Wir brauchen talentierte Nachwuchsschwimmer“.